Sensomotorische Lebensweisen -
ein Konzept zum Verständnis von Menschen mit geistiger Behinderung
Geistige Behinderung - was ist das?
Leicht suggeriert uns die Verwendung einer bestimmten Bezeichnung, es gäbe einen eindeutigen Umstand, der damit bezeichnet wird. Dies gilt auch für die Bezeichnung „geistig behindert“, die meist relativ undifferenziert verwendet wird, selbst wenn man grobe Einteilungen nach „Schweregrad der Behinderung“ vornimmt.
Würden wir verschiedenen Personen fragen, was ihnen dazu einfällt, wenn man einem Menschen diese Eigenschaft zuschreibt, wir wären von der Breite der Assoziationen sicher überrascht. Dies dürfte noch ausgeprägter der Fall sein, wenn wir von „schwerer“ oder gar „schwerster geistiger Behinderung“ oder von „schwerst-mehrfachbehindert“ sprechen. Auch der unterschiedliche Definitionsumfang des Begriffs und seiner Übersetzungen in verschiedenen Sprachen und Kulturen ist bekannt.
Menschen mit einer geistigen Behinderung lassen sich wohl durch den Hinweis näher umschreiben, dass ihren Möglichkeiten, sinnvoll und kompetent die wechselnden Anforderungen des Alltags zu bewältigen, oft enge Grenzen gesetzt sind, zumal in der komplexen Welt unserer Zivilisation. Diese Feststellung lässt jedoch viele Fragen offen:
- Wie erleben sie das, was man ihnen vermittelt und mit ihnen macht?
- Was hätten sie selbst Interesse zu lernen?
- Wie lässt sich ihnen verständlich machen, worum es einem geht?
- Wie kann Selbstbestimmung bei einem bestimmten Menschen praktisch aussehen?
- Wie weit gehört es einfach zu ihrem „Behinderungsbild“, dass es an den anderen – Eltern, LehrerInnen, HeilpädagogInnen – liegt zu entscheiden, was sie tun und wie sie leben sollen?
Anliegen
Das Konzept der Sensomotorischen Lebensweisen will versuchen, möglichst konkret, erfahrungsbezogen und nachvollziehbar darzustellen, wie Menschen, die wir als geistig behindert bezeichnen, möglicherweise sich und ihre Welt erleben. Dies soll auf eine Weise geschehen, die zum einen das Gemeinsame deutlich werden lässt, das wir mit ihnen teilen, und die zum andern unmittelbare Annahmen erlaubt, was diesen Menschen wichtig sein könnte, wie sie sich vielleicht verstanden und adäquat angesprochen fühlen dürften.
Dabei soll es ganz sicher nicht um eine endgültige Allerklärungstheorie gehen, die keine Fragen mehr offen lässt, sondern um einen theoretischen Hintergrund für möglichst hilfreiche Einsichten im Sinn von Hypothesen, die sich im Einzelfall jeweils erst im Rahmen einer dialogisch geprägten, heilpädagogischen Praxis bewähren müssen.
Hintergrund
Zu diesem Zweck soll an Themen erinnert werden, die in den ersten Monaten unseres Lebens auch bei uns selbst einmal im Mittelpunkt gestanden haben, und die bis heute unsere Persönlichkeit auf unterschiedliche Weise prägen. Es sind dies im Wesentlichen die lange bekannten Themen der – nach Piaget – „sensomotorischen Phase“ der Entwicklung, ergänzt durch Einsichten der pränatalen und frühkindlichen Psychologie sowie der neueren Neuropsychologie.
In diesen Lebensweisen wird unser Umgang mit der Welt ganz von dem bestimmt, was sich mit den Sinnen aufnehmen und mit Bewegung beantworten lässt, wobei eben der Koordination der Bewegung – der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung – eine zentrale Bedeutung zukommt. Was man nicht direkt mit den Sinnen und in der Bewegung spüren kann, hat in diesen Lebensweisen kaum eine Bedeutung, da keine oder nur unzureichende innere Vorstellungen von der Welt zur Verfügung stehen.
In der unbehinderten Entwicklung legt ein Kind vor allem in den ersten 18 Lebensmonate die Grundlagen für diese Lebensthemen. In der Arbeit mit beeinträchtigen Menschen geht es dabei – in konventioneller Terminologie – vor allem um folgende Personengruppen:
Menschen mit deutlicher bis schwerer geistiger Behinderung oder solchen mit sehr unausgeglichenen Kompetenzprofilen (z.B. auch autistischem Verhalten) schwerst mehrfach behinderte Menschen, aber auch Menschen im Wachkoma oder in fortgeschrittenen Stadien der Demenz, bei denen aufgrund ihres Lebensschicksals diese Themen wieder in den Vordergrund gerückt sind – aber natürlich auch um Kinder, deren Entwicklung entsprechend verzögert verläuft.
Materialien
Präsentation des Konzepts "Sensomotorische Lebensweisen"
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Darin finden sich auch genauere Nachweise der wissenschaftlichen Hintergründe dieses Konzepts.
Interview zum Konzept "Sensomotorische Lebensweisen" ...
➔ mit Winfried Mall im Sender RAI Bozen vom 12.05.2006
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